Der Fischerjunge und sein Traum vom Fliegen
Dort, wo in Flörsheim die westliche Untermainstraße einen Bogen hin zur Hochheimer Straße macht, wuchs vor langer Zeit im kleinen Haus seiner Großmutter ein Waisenjunge mit Namen Friedrich auf; seine Eltern, die älteste Tochter der Großmutter mitsamt einem ungeborenen Kind und deren Mann, ein Mainfischer, waren zwei Jahre nach Friedrichs Geburt bei einem Schiffsunglück vor der Stadt Frankfurt im Main zu Tode gekommen. Die Großmutter hatte den Jungen ohne Zögern angenommen, hatte großen Gefallen an ihrem mittlerweile zwölf Jahre alten Enkel und der hatte großen Gefallen an der Vogelwelt. Dies brachte die Großmutter dazu, Friedrich aus dem Nachlass ihres Bruders ein Fernrohr zu besorgen, mit dem er die Vögel jeder Art beobachten konnte. Dabei stellte Friedrich fest, dass das Fliegen nur den Vögeln und sonst nur Kleingetier wie Schnaken oder Bienen möglich ist und dass dies daran liegen musste, dass so ein Vogel nicht nur Flügel, sondern auch die Kraft hatte, die Flügel zu schlagen und sich damit in die Luft zu erheben. Friedrich träumte davon zu fliegen!
Das Haus der Großmutter lag, wie auch die anderen Häuser ringsum, mehr als zehn Meter höher als der Main, ein mäßig steiler Abhang stellte den Übergang von der oben gelegenen Wohnebene zu den Mainwiesen, zum Mainufer und schließlich zur Wasserfläche dar.
Friedrich hatte schnell gelernt, dass ein Mensch, also auch ein Junge wie er, sich aus eigener Kraft niemals in die Luft schwingen und davonfliegen kann, denn dafür, so wusste er, war ein Mensch viel zu schwer. Aber er wollte es genau wissen, warum die Vögel fliegen, und so begann Friedrich in einem Monat Mai sich aus Lindenholz einen Vogel mit ausgebreiteten Flügeln zu schnitzen, und da die meisten Vögel zu klein und zu scheu waren, um von ihm nachgebildet werden zu können, saß er so oft er konnte nach der Schule im Nachen seines Vaters, sah den Hausgänsen zu und schnitzte. Die Gänse schwammen auf dem Main hin und her, doch irgendwann kamen sie aus dem Wasser und watschelten auf die Mainwiesen, um zu grasen. Am späten Nachmittag sammelten sie sich unterhalb der Untermainstraße und da vor ihnen der bereits genannte Abhang ihrem Gang ein Ende machte, streckten sie ihre Flügel, flogen nach oben und marschierten ihren Ställen zu, wobei man wissen muss, dass die Eigentümer der Gänse ihre Tore offen hielten und jede Gans genau wusste, wohin sie gehen und sich zum Schlafen zurückziehen konnte.
Früh an jedem Morgen tappten die Gänse aus ihren Ställen, watschelten die Untermainstraße hinunter und sammelten sich vor dem Abhang. Und plötzlich und als ob ein Ganter oder eine Gans das Kommando ga-ga-ga gerufen hätte flogen alle Gänse auf, flogen über die Wiese und das Ufer und klatschten auf den Main, schnatternd und schimpfend je nach ihrer Stimmung, die auch bei Gänsen wie bei uns Menschen nicht jeden Tag gleich ist.
Friedrichs Großmutter besaß wie jede andere Hausgemeinschaft in der Untermainstraße einen Gänsestall, ihr gehörten dreizehn große weiße Hausgänse, darunter ein Ganter, und zumeist saßen zwei der Gänse brütend auf ihren Eiern. Eine der Gänse, Friedrich nannte sie Hulda, war so vertraut, dass sie sich von Friedrich in die Arme nehmen und streicheln ließ. Das nahm Friedrich zum Anlass, sich die Hulda daraufhin anzusehen, ob und wie ihr ein Brustgeschirr geschneidert und angelegt werden konnte, und es gelang Friedrich, seine Cousine Lissi dafür zu begeistern, der Hulda aus alten, festen Kleiderstoffen ein Geschirr zu nähen. Als Friedrich der Hulda das Geschirr anlegte und probierte, wie viel Kraft eine Gans hatte, um ihn ein Stück weit zu ziehen, meinte er zu wissen, dass elf Gänse seiner Großmutter nur richtig verzurrt werden mussten, um ihn in die Lüfte zu tragen: Friedrich träumte davon zu fliegen!
Die nächsten Wochen verbrachte Friedrich viel Zeit mit den Gänsen, und nach einer Weile konnte er jeder von ihnen ein Geschirr überstreifen, ohne dass sich weder der Ganter noch eine der Gänsedamen dagegen gewehrt hätte.
Friedrichs Absicht war es, die elf Gänse zu einem Gespann zu verknüpfen, um sie zuerst zum gemeinsamen Laufen und dann zum Fliegen über den Abhang und über die Wiesen bis in den Main hinaus zu bringen. Um die Gänse zu lehren was sie zu tun hatten trieb er sie jede Woche zweimal am Morgen vor Schulbeginn vor sich her bis an den Abhang, ging dann einige Schritte zurück, rannte mit Geschrei auf die Gänse zu und schon schwangen sich alle auf einmal in die Luft und flogen in den Mainstrom.
An einem Sonntagmorgen während der Frühmesse legte Friedrich unter Mithilfe von Lissi allen elf Gänsen die Geschirre an, verband sie in der Art, dass der Ganter allein und vorweg und die zehn Gänse je fünf auf jeder Seite miteinander angebunden waren, dann trieb er sie bis kurz vor den Abhang, um sie dann mit Anlauf und Geschrei auf den Flugweg zu bringen. Und wie wunderte er sich dass dies gelang und die elf Gänse ohne sich gegenseitig zu berühren oder gar zum Absturz zu bringen geordnet bis in die Mitte des Mains flogen. Miteinander gefesselt schwammen sie auf dem Main, kamen zusammen ans Ufer um zu fressen und schwangen sich dann gemeinsam auf, den Abhang zu überwinden und zu Großmutters Hof zu kommen, dort konnten Friedrich und Lissi die Geschirre lösen und die Gänse in ihren Schlafstall entlassen.
Da Friedrich wusste, dass er ohne Flügel nicht lange in der Luft bleiben konnte, schnitt er Weidenzweige aus dem Ufergebüsch, verband sie zu einem Gerippe in Form von zwei Flügeln und er und Lissi spannten alten leichten Stoff darüber, auch fertigten sie aus drei alten Gürteln einen Brustgurt an. Zuletzt baute Friedrich noch in jeden der beiden Flügel einen Haltegriff ein und als er zum ersten Mal die Flügel anlegte und auf und ab schwang war er sich sicher, mit dem kräftigen Zug der Gänse zumindest bis mitten auf den Main fliegen zu können. Friedrich träumte davon mit den Gänsen zu fliegen!
Aber zuerst noch wiederholten Friedrich und Lissi noch einige Male mit den an die Geschirre gefesselten Gänsen die Ausflüge, und da das gemeinsame Fliegen keine Schwierigkeiten machte beschloss Friedrich, an einem Sonntagmorgen den Flug mit dem Gänsetrupp als Zugtiere zu wagen.
Mittlerweile war es ein Sonntag im Oktober geworden und das Fest des heiligen Gallus stand unmittelbar bevor. An diesem Tag sollte Friedrichs Traum zu fliegen in Erfüllung gehen. Wieder verknüpften die beiden die elf Gänse zu einem Gespann, doch auch Friedrich hatte sich gegurtet und die Flügel angelegt. Als er aus Großmutters Hof kam, die Gänse vor sich und Lissi hinter sich, kamen die Großmutter und zwölf ihrer Nachbarn mit ihren Kindern aus dem Frühgottesdienst in Sankt Gallus, sahen den, wie sie meinten, vorgezogenen Kerweumzug und liefen lachend und schwatzend hinter den Gänsen und Friedrich her, dem Main entgegen.
Etwa sieben Schritte hinter den Gänsen ging Friedrich dem Abhang zu, die Gänse, aber auch die Zuschauer blieben schnatternd stehen und nur die Gänse warteten auf das Signal zum Abflug. Friedrich brachte den Gurt auf Spannung, breitete die Flügel aus und auf seinen Ruf „Fertig!“ hin kam Lissi schreiend von hinten angerannt, die Gänse erhoben sich in die Luft und Friedrich wurde von ihnen mitgerissen; ja, er wurde von den Gänsen über den Abhang, über die Wiese hin bis über das Wasser gezogen, und Lissi und die anderen Zuschauer, die mit aufgerissenen Mündern den Friedrich davonfliegen sahen, hörten ihn rufen: „Ich fliege, juhu!“
Gerade in diesem Augenblick flog ein Schwarm wilder Gänse laut rufend hoch über dem Main nach Westen und es war, als erinnerten sich die Hausgänse ihrer uralten Verwandtschaft und Herkunft und flogen hinter den Wildgänsen her, den fliegenden Friedrich mit sich führend.
Friedrich wurde nie mehr gesehen und so nahm der Schultheiß an, dass er auf dem Vogelzug über den Main verunglückt und ertrunken sei und ließ ihn ins Totenbuch der Gemeinde einschreiben.
Die Großmutter aber weinte nicht, denn ihr Friedrich hatte sich seinen großen Traum vom Fliegen erfüllt, und so schrieb sie etwas auf ein Stück Stoff und ließ sich von allen ihren Nachbarn unterschreiben, dass die Stelle oberhalb des Abhangs zum Main den Namen „Gänskippel“ bekommen sollte, dies wurde ihnen auch vom Schultheiß gewährt. Er sagte dazu: „Ich habe mich erkundigt, den Namen Gänskippel gibt es nur hier in Flörsheim und sonst nirgendwo im ganzen Land, seid stolz darauf.“
Und so hatte der Schultheiß auch nichts dagegen, dass der unmittelbar neben dem Abhang wohnende Gemeindebedienstete zuerst nur an Fastnacht und später auch mit vollem Ernst sich „Bürgermeister vom Gänskippel“ nennen und an besonderen Feiertagen eine eigene Fahne hissen durfte. Diese Fahne, die eine lebensgroße Hausgans auf grünem Grund zeigt, wurde von den „Gänskippelern“ bei festlichen Umzügen mitgeführt.
Das alles ist lange her. Die Fahne gibt es noch heute, sie hat die alten Gänskippeler und ihre weißen Gänse überlebt. Überlebt hat auch die Geschichte vom Fischerjungen Friedrich. Sein Traum vom Fliegen allerdings ist an manchen Tagen nicht nur am Flörsheimer Gänskippel zum Albtraum geworden.