An Heiligabend

Vor langer, langer Zeit ging der siebzehnjährige Paul, der älteste Sohn des Flörsheimer Fischers Andreas Heil und von seiner Mutter „Paulche“ genannt, an Heiligabend mit einer Angel, einem Eisbohrer und einem Bündel Schilf auf den zugefrorenen Main hinaus. In der Mitte des Flusses angekommen bohrte er ein Loch ins Eis, befestigte ein Stück Hühnerfleisch am Haken seiner Angel und ließ den Köder hinunter auf den Grund des Mainstroms fallen. Es war bitterkalt gewesen an diesem Tag und bitterkalt war es noch an diesem späten Abend, aber Paulche fror nicht, denn er hatte sich in dicke Fischersachen gehüllt. Lederne Handschuhe schützten seine Hände, eine Wollmütze verdeckte seine Ohren und in seine Fischer­stiefel hatte er genug trockenes und vor dem Herd gewärmtes Moos hi­neingestopft: so ausgestattet konnte es Paulche eine Zeitlang auf dem Eis aushalten, ohne zu frieren und ohne kalte Füße zu bekommen.

Bevor Paulche seine Angel genommen hatte fragte ihn seine Mutter: „Paulche, warum willst du denn aufs Eis? Es ist dick gefroren und dir kann nichts geschehen, aber ich werde froh sein, wenn du wieder daheim bist. Warum willst du denn überhaupt hinaus?“

„Mutter“, hat‘s Paulche geantwortet, „dass hat unser Vater doch auch jedes Jahr an Heiligabend gemacht, und wenn er noch leben würde, ginge er heute Abend auch wieder hinaus. Also, und das würde Vater gefallen, mache ich das und wenn mir ein Fisch an den Haken kommt weiß ich, was ich zu tun habe.“

Die Mutter war noch nicht zufrieden. „Paulche, wir haben genug Fische im Keller. Ihr Buben habt schon im November Eis geschlagen und in den Keller gebracht, wir haben Fische in Salz eingelegt und auch geräuchert, also deswegen musst du nicht aufs Eis.“

Paulche entgegnete: „Mutter, lass mich gehen und du weißt auch warum, ich bleibe nicht lange. Und mach‘ dir keine Gedanken, mir passiert schon nichts.“

So ist das gewesen und jetzt stand Paulche vor dem Eisloch mit dem Köder auf dem Grund des Flusses. Der Mond war noch nicht aufgegangen und so konnte er den Himmel voller Sterne sehen, und wie er es in der Schule gelernt hatte, wusste er, dass man das große Sternenband hoch oben die Milchstraße nennt und dass es nicht nur Sterne, sondern auch Planeten gibt, die wie die Erde um die Sonne kreisen.

Wie ist es still auf dem Eis gewesen, nur aus den Erlenbäumen an der Eisbrech rief ein Käuzchen und von weit weg ließ ein Uhu sein dumpfes Buhu-Buhu hören. Die Nachtvögel saßen irgendwo auf einer Sitzwarte, weil sie auf der Jagd nach Mäusen waren, die sie im Dunkeln erst einmal hören können; dann stellen sie ihre Ohren um zu ermitteln, wo eine Maus herumwuselt und dann kommen sie lautlos durch die Nacht geflogen und greifen zu.

Dann legte Paulche seinen Kopf in den Nacken, schaute nach oben und hörte die Planeten singen, und dem Paulche war das nicht unheimlich weil er dachte, ja wenn die schon da oben kreisen, dann muss man sie auch hören können. Und als er dann noch das Nordlicht sah, wie es grüne und rote und gelbe Fahnen über den Himmel flattern ließ, da ließ er sich auf seine Knie hinunter, faltete die Hände und betete: „Lieber Gott, gib meinem Vater die ewige Ruhe, und lass meine Mutter, meine zwei Schwestern, meinen Bruder und auch mich gesund bleiben und bewahre uns vor dem Bösen. Und wenn wir sterben soll die Mutter Gottes uns helfen, in den Himmel zu kommen.“

Dann stand Paulche auf, schaute nach seiner Angel und zog sie aus dem Eisloch, und weil ein großer Fisch, ein armlanger und sicher zweieinhalb Kilo schwerer Döbel angebissen hatte, machte er das, was sein Vater auch immer auf dem Maineis an Heiligabend gemacht hatte: Er nahm den Fisch vom Haken und bevor er ihn wieder ins Wasser hinunter ließ sagte er zu ihm: „Großer Fisch, schwimm wieder hinunter und erzähle deiner Familie, dass Weihnachten ist, und erzähle ihnen allen, dass auch ihr Fische, die der liebe Gott geschaffen hat, um uns Menschen zu ernähren, den Frieden an Weihnachten und auf der ganzen Welt genießen könnt.“

Dann steckte Paulche das Bündel Schilf ins Eisloch, damit kein anderer Fischer versehentlich ins Loch trete, nahm seinen Eisbohrer und seine Angel und ging nach Hause. Wie er in die warme Küche kam, wo seine Mutter und seine Geschwister bei Kerzenlicht und Tannengrün, bei Kräutertee und Dinkelkuchen am Tisch saßen und die Mutter ihn fragte: „Paulche, mein großer Bub, hast du einen Fisch gefangen und hast du ihn wieder ins Wasser gelassen, so wie es Vater immer gemacht hat?“, da hat Paulche nur genickt, hat seine Fischersachen aus- und andere Kleidung angezogen und gesagt: „Mutter, gib mir bitte eine Tasse Tee und dann gehen wir alle miteinander in die Christmette.“

„Ja Paul“, sagte die Mutter, „so machen wir es.“

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