Die Sage vom Opferstockstein

Im Frühjahr dieses Jahres rief mich ein Mann ohne Namensnennung an und fragte unvermittelt: „Wie ich gehört habe, mögen Sie alte Schriften. Ist das richtig?“ Ich antwortete: „Ja, das ist richtig. Was kann ich für Sie tun?“ „Ich kann etwas für Sie tun“, sagte der Mann, „mein Großvater ist gestorben und in seinem Nachlass fanden meine Frau und ich eine Handschrift, die wir nicht lesen können, aber die sehr interessant zu sein scheint. Wenn Sie sie haben wollen, müssen wir sie nicht wegwerfen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich weiß wo Sie wohnen und heute Abend werfe ich die Schrift in Ihren Briefkasten. Wenn sie auch Ihnen nichts wert ist, schmeißen Sie sie einfach weg. Wenn sie Ihnen aber gefällt, dürfen Sie sie veröffentlichen.“ „Darf ich fragen, wie Sie heißen?“, fragte ich noch, aber da hatte der Unbekannte schon aufgelegt.

Am nächsten Morgen lag nicht nur die Tageszeitung im Briefkasten, sondern auch ohne Hinweis auf den Absender eine Plastikhülle mit drei engbeschriebenen Seiten einer alten Papiersorte, der Handschrift und Form nach gewiss mehr als hundert Jahre alt, ohne Namen und Unterschrift, aber mit der Überschrift: „Die Sage vom Opferstockstein, wie sie die alten Flerschemer erzählen.“

Eine Sage von einem Opferstockstein, wie die Alten im Dorf Flörsheim sie erzählen? Davon hatte ich noch nie gehört, noch am selben Abend wollte ich mit dem Lesen beginnen. Das tat ich denn auch, ich begann zu lesen und las das ganze Schriftstück in einem Zug. Während des Lesens stieg ein Verdacht in mir hoch, als hätte ich von einem solchen Stein schon einmal gehört oder gelesen, wie war das nur? Aber es fiel mir nicht ein.

Als ich einige Tage später beginnen wollte, die Handschrift in Beachtung der alten Schrift auf den Speicher meines Laptops zu übertragen, einen internen Ordner dazu anlegen wollte und nach einem Namen dafür suchte, rutschte der Zeiger meiner Maus auf den Ordner „Zeitungsausschnitte“; ich öffnete ihn, blätterte darin, fand aber keinen Ausschnitt, den ich mit Opferstein oder Ähnlichem in Verbindung bringen konnte. Ich fand aber eine von mir handgeschriebene Notiz über einen tödlichen Unfall auf dem Main, von dem ich gehört hatte und der mich deshalb zum Schreiben der Notiz anregte, weil er in der Nähe der ehemaligen Furt durch den Main, die Seilfurt genannt, geschehen war und ich damals alles sammelte, was ich einmal über diese Furt und das namensgebende, im Jahre 1476 untergegangene Dorf Seilfurt, schreiben wollte. Ich hatte geschrieben:

„Im Jahr 1980 ereignete sich bei Baggerarbeiten auf dem Main ein schrecklicher Unfall. Ein Schwimmbagger lag etwas unterhalb der Mündung des Wickerbachs im Main, dort, wo früher die Seilfurt gelegen war, um nahe des Hochheimer Ufers den Fluss von Steinen und Geröll freizumachen. Neben dem Bagger lag ein kleiner Lastkahn, in den der Baggerführer die gefüllte Schaufel entleerte. Ein Kollege von ihm stand auf dem Kahn und beobachtete das Einschaufeln, um Laut zu geben, bevor etwa Fahrräder oder Einkaufswagen oder ähnliches Gut unter die Steine gemischt wurden.

Plötzlich sah er einen sonderbar geformten Stein auf der Schaufel liegen, er blies in sein Signalhorn und gab damit dem Baggerführer das Zeichen, die Schaufel stillzuhalten, so dass er näher kommen konnte, um sich den Stein anzusehen. „Mann, sieht der gut aus“, rief er seinem Kollegen zu, „ich leg‘ ihn neben hin, den schauen wir uns nach der Schicht mal genauer an.“

Das taten sie denn auch. Auf der Brücke des Lastkahns besahen sie sich den Stein; es war ein sonderbarer Stein aus einem schwarzen, harten Material, das die beiden vom Main nicht kannten, sie einigten sich darauf, es könne Granit sein. Als sie den Stein anhoben hatten sie den Eindruck, als habe er im Innern eine Höhlung, denn ohne eine solche müsste er viel schwerer sein. Der Stein hatte die Form eines übergroßen Eis, seine Unterseite war abgeplattet, so dass er auf den Boden stehen konnte ohne umzufallen, und als sie ihn aufstellten entdeckte einer der beiden, dass „das Ei“ oben einen Schlitz hatte, wie um Geldstücke hinein zu werfen.

„Ob da Geld drin ist?“, fragte der Baggerführer, „vielleicht Goldstücke?“ „Und wenn, was würdest du damit machen? Ich brauche kein Geld“, sagte der Kollege. Der Baggerführer antwortete: „Ich würde mir eine schöne Reise gönnen, nach Italien, da wollte ich schon immer mal hin.“ Sie nahmen gemeinsam den schweren Stein hoch und schüttelten ihn kräftig, aber nichts was nach dem Klimpern von Münzen klang war zu hören. „Wer weiß welche Viecher den Stein als Wohnung benutzen, die haben darin ihre Nester gebaut und deshalb hören wir nichts. Aber das haben wir gleich“, sagte der Baggerführer, ging zum Bagger hinüber und kam mit einem schweren Vorschlaghammer zurück. Er legte den Stein auf den stählernen Brückenboden und drückte, um ihn in seiner Lage festzuhalten, auf zwei Seiten einige kleinere Steine dagegen, hob den Hammer und schlug zu. Der Hammer sprang zurück, ohne den Stein zu beschädigen.

„Lass mich mal“, sagte sein Kollege und holte aus zu einem kräftigen Schlag, doch der Hammer sprang wieder zurück, ohne dass der Stein auch nur einen Riss zeigte. „Noch einmal ich“, meinte der Baggerführer, nahm den Hammer, spreizte die Beine, holte weit hinter seinem Kopf auf und schlug zu – der Stein zersprang, der Baggerführer griff an seinen Hals, röchelte und fiel rücklings zu Boden: Ein scharfkantiges Bruchstück hatte sich in seinen Hals gebohrt, hatte seine Halsschlagader getroffen und ihn tödlich verletzt, der Mann verblutete in wenigen Augenblicken vor den Augen seines Kollegen.

Als der den Baggerführer tot sah, ergriff er voller Zorn die Einzelstücke des Steins und warf sie weit hinaus in den Main. Beim letzten Stück mit der Rundung der Höhlung vermeinte er zwar einen goldenen Schimmer gesehen zu haben, doch er maß dem keine Bedeutung bei, Geld und Gold hatten mit dem Tod seines Kollegen jede Bedeutung verloren.“

 

Das war es also, was ich von einem besonderen Stein in Erinnerung hatte, von einem eiförmigen schwarzen Stein zum Aufstellen mit einem Geldschlitz – gerade davon handelt doch die Sage vom Opferstockstein! Ich nahm die Schrift in die Hand, setzte mich ans Fenster des Wohnzimmers und begann sie noch einmal zu lesen. Und ein Mal lief mir beim Lesen ein Schauer über den Rücken.

Hier folgt meine Nachschrift der mir zugestellten Handschrift, übertragen in zeitgemäße Sprache:

Die Sage vom Opferstockstein, wie sie die alten Flerschemer erzählen.

„Es begab sich vor langer, langer Zeit, als unweit der Seilfurt, dem uralten Übergang über den Main und nahe der Mündung des alten Bachs, auf einem von den jährlichen Hochwassern angetragenen Damm, eine aus Bruchkalksteinen gemauerte Kapelle stand. Eingehüllt in dichtes Brombeer- und Holundergestrüpp konnten die Fischer vom Fluss aus nur ihre spitzgiebelige hintere Wand sehen, denn ihr Dach war schon lange eingestürzt. Wem die Kapelle geweiht worden war wusste keiner von ihnen. Allerdings vermuteten sie, dass sie dem Heiligen Nepomuk geweiht gewesen sein mochte, dem Schutzheiligen der Brücken und Flussübergänge. Und es ging die Sage, dass ein reisender König nach seinem Übergang durch die Furt zwei Goldstücke in den Opferstock gesteckt hatte mit seiner ausdrücklichen Weisung, dass dieses Gold nur zur Behebung von Schäden an der Kapelle verwendet werden durfte; jeder, der es zu anderer Nutzung dem Stein entnehmen wolle, sei verflucht und werde mit dem Tode bestraft.

Die Flersheimer Fischer hatten uraltes Fischereirecht flussabwärts bis zur Hochheimer-Kostheimer Grenze und um dieses Recht nicht zu verlieren, fischten die Flersheimer mindestens ein Mal im Monat auch unterhalb der Hochemer Weinberge im Mainstrom. Hierzu wechselnden sich die Fischer ab, denn die Fahrt war beschwerlich, da sie ihre Fischernachen auch wieder zurückbringen mussten. Und so fuhren sie meist nur bei Westwind den Fluss hinunter, um den Rückweg nach Flersheim mit gesetztem Segel vornehmen zu können.

Wenn die Fischer in der Fischerstube zusammensaßen, sprachen die Alten auch schon mal über die Kapelle an der Seilfurt, über die Sage vom Opferstockstein und dass keiner von ihnen davon berichten konnte, jemals in die Nähe der Kapelle gekommen zu sein und sie wüssten auch, dass die Hochemer Winzer ihr fernblieben, alle fürchteten sich vor dem Fluch des Königs. Die jungen Fischer hörten den Alten zu und lächelten, denn wer wird schon an einen uralten Fluch und an Goldstücke in einem Stein glauben – und dennoch scheuten auch sie sich, der Kapelle nahe zu kommen, man kann ja nie wissen …

Georg Mor, genannt Schorsch, der jüngste der Flersheimer Fischermeister, wollte von dem ganzen Hokuspokus nichts wissen und er beschloss, der Sache einmal nachzugehen, jedoch ohne den alten oder jungen Fischermeistern etwas davon zu erzählen. Und so führte er eines Tages seinen Nachen unterhalb der Kapelle an Land, kletterte die Böschung hinauf, hieb sich mit seinem Fischermesser einen Weg zur Kapelle frei und war nicht erstaunt darüber, dass in ihrem Innern die Steinplatten des Daches kreuz und quer übereinander lagen, da die hölzernen Sparren, die sie getragen hatten, schon lange vermodert waren, auch hatte die Kapelle wohl niemals eine Tür besessen. Sie war nach der Flussseite hin offen, denn wenn jemals eine Heiligenfigur in der Kapelle gestanden haben sollte, konnte sie ohne ein Hindernis hinunter auf den Fluss und die Menschen blicken, die sich allein, in Gruppen oder mit Pferd und Wagen durch die Furt bewegten.

In der Kapelle sollte also ein Opferstock gewesen sein und wenn dies so war, dachte Schorsch, wird er unter den Steinplatten begraben sein und er begann, die schweren Platten eine nach der anderen aufzuheben und ein Stück weit entfernt abzulegen – und richtig gaben sie bald einen Stein frei, aus einem schwarzen Material das er noch nie gesehen hatte, der seinem Gewicht nach innen hohl sein musste und der einen Schlitz für den Einwurf von Geldstücken besaß. Doch als er ihn anhob und kräftig schüttelte, konnte er es nicht klimpern hören, Geld oder Gold gab es darin wohl nicht. Aber sollte es doch sein, dann würde er einen Lastschelch kaufen, um damit Sand und andere Güter gegen Lohn befördern zu  können. Um es genau zu wissen suchte er nach einer kleinen Öffnung, aus der die Münzen herausgeschüttelt werden konnten, doch er fand sie nicht und so nahm er an, dass eine Laune der Natur diesen Stein mit einer Höhlung geschaffen hatte und ein findiger Mensch nur einen Schlitz hineinzuschneiden brauchte, um einen festen und sicheren Hort für Geld- und Goldstücke zu schaffen. Da Schorsch also nirgendwo erkennen konnte, wie er an das Innere des Steins gelangen könnte gab es nur die Möglichkeit, mit einem schweren Hammer den Stein zu bearbeiten und so nahm er sich vor, am nächsten Tag mit einem Vorschlaghammer wiederzukommen und den Stein zu zertrümmern. Was war schon dabei und entweder war Geld und Gold darin oder nichts.

Als Schorsch am nächsten Tag zurückkam und den schweren Hammer mit sich führte, legte er sich den eiförmigen Stein zurecht, hob den Hammer – und erschrak fast zu Tode, denn mitten in der Rückwand der Kapelle stand ein Mann, der Kleidung und Haltung nach ein Henker; gestützt auf sein Schwert sah er Schorsch aus kalten Augen an und Schorsch wusste im gleichen Augenblick, der Henker würde ihm den Kopf abschlagen, wenn er es wagen sollte, den Stein zu zertrümmern, der Fluch des Königs würde sich erfüllen.

Schorsch legte den Hammer auf den Boden, hob beide Hände hoch über den Kopf und sofort war der Henker verschwunden. Nun rollte Schorsch den Stein die Böschung hinunter und bis zum Main, wo er ihn in seinen Nachen hob; dann holte er noch den Hammer, stakte das Boot nur eine kleine Entfernung gegen die Flussmitte und kippte den Stein über Bord. So, diesen Stein würde kein Mensch jemals mehr finden und ihn aufzuschlagen versuchen, somit war der Fluch des Königs für alle Zeiten gebannt.

Schorsch setzte das Segel und kam mit gutem Wind nach Flersheim zurück. Erst viele Jahre nach diesem Tag erzählte er, alt und grau geworden, seinem Ältesten von seinem Erlebnis mit dem Opferstockstein und dem Henker in der Kapelle und ließ sich versprechen, dass der Sohn auch erst im hohen Alter den Bericht seines Vaters weitergab.

Und es geschah, dass ich, der ungenannt bleiben will, nach vielen Jahren von der Kapelle, dem Stein und dem Henker erfuhr, alles aufschrieb und der Geschichte einen Namen gab: „Die Sage vom Opferstockstein, wie sie die alten Flerschemer erzählen.“

 

Ich saß am Wohnzimmerfenster, legte die Papiere in die Hülle zurück, dachte nach und dachte daran, dass Schorsch Mor den Opferstockstein in den Main kippte, ein Baggerführer ihn wiederfand, ihn öffnen wollte und dass an ihm der Fluch des Königs wirksam wurde, dem Schorsch entkam.

Von der Kapelle an der Seilfurt ist heute kein Stein mehr übrig, niemand mehr kann sich an sie erinnern und nur die mir übergebenen anonymen Papiere erzählen von ihr und einem Opferstockstein – doch der Bericht über einen schrecklichen Unfall eines Baggerführers lässt mich daran denken, dass sich hier eine Wahrheit hinter einer Sage verbirgt und so glaube ich fest daran, dass Schorsch Mor den Henker gesehen hat, der einige hundert Jahre später einen Steinsplitter lenkte, um sein Werk im Auftrag seines Königs zu vollenden.

 

Bild: Pulst Opferstock Stein, Wikimedia Commons, Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International