Martin und Viola und eine große Liebe
Es begab sich vor langer, langer Zeit. Da sagte der Flersheimer Fischermeister Windberger zu seinem Sohn, dem Fischergesellen: „Martin, ich brauch‘ noch ein paar große Steine aus der Wolfsschlucht. Holst du sie?“
„Aber ja, Vater. Wie viele braucht Ihr noch?“
„Sechs oder sieben.“
„Soll ich sie heute holen?“
„Wenn du willst. Aber morgen reicht auch noch.“
„Vater, ich wollte morgen ein Stück über die Seilfurt hinaus zum Fischen fahren. Wir haben heute und ganz gewiss auch morgen noch einen guten Westwind ohne Regen, dann kann ich die Steine in den Nachen laden, das Segel setzen und kann ohne große Anstrengung zurückkommen.“
„Da habe ich nichts dagegen. Nimm die Schiebkarre mit, vom Bruch bis zum Main kannst du sie gut brauchen, oder?“
„Ja, so hab‘ ich mir das gerade auch gedacht.“
„Also noch sieben große Steine, wir hatten ja vor zwei Wochen genug davon gebrochen. Ich hoffe nur, dass niemand sonst sie geholt hat.“
„Ich nehm‘ die Spitzhacke mit, Vater. Sollten die Steine nicht mehr da sein, brech‘ ich halt neue Steine.“
„Dann aber nicht aus der Wand, hörst du, sondern aus der Halde. Du weißt, dass es an der Wand im letzten Jahr ein Unglück mit zwei Toten gegeben hat.“
„Vater, die zwei Hochemer waren aber auch sehr leichtsinnig. Wie kann man denn unten Steine herausklopfen, wenn oben ein Überhang besteht, der herunterstürzen kann? Sie hätten von oben die Steine lockern müssen, oder?“
„Aber ja. Also, soll ich mitfahren oder soll deine Schwester Mathilde …?“
„Vater!“
„Ist ja gut, mein Junge.“
Am nächsten Tag bei Sonnenschein, mäßigem Wind und hellen Wolken im Himmelsblau nahm der Fischergeselle Martin Windberger den Nachen seines Vaters, tat ein Wurfnetz, die Schiebkarre und eine Spitzhacke hinein, hing die Arche, den schiffförmigen und mit einem Deckel voller Luftlöcher versehenen Hälterungskasten an den Nachen und ließ sich den Main hinunter treiben. Hinter den Stromschnellen der Seilfurt setzte er nahe dem Schilfwald am Ufer den Anker, füllte die Arche halbvoll mit Mainwasser, ergriff das Wurfnetz mit seiner Rechten, hielt es am Seil mit seiner Linken fest und warf es mit kräftigem Schwung aus. Das Netz bildete einen Kreis auf der Wasseroberfläche, bevor es den steinernen Gewichten folgend auf den Grund des Flusses sank.
Als Martin das durch sein Ziehen am Halteseil sich schließende Netz nach einigen Minuten zu sich heraufholte, sah er am Gezappel der Fischleiber, dass er einen guten Fang getan hatte. Sorgsam zog er das Netz in den Nachen, öffnete es und griff nach den Fischen. Kleine und junge Fische warf er in den Main zurück, doch acht große Karpfenfische, zwei Bresen und sechs Barben, konnte er in die Arche heben. Noch einmal warf Martin das Wurfnetz aus und wieder konnte er kleine Fische in ihr Element entlassen und fünf große Barben und Bresen in die Arche setzen.
Nun war es an der Zeit, die Steine zu holen. Martin zog den Anker ein, stakte den Nachen mit dem Fahrbaum an eine von Weidengebüsch freigehauene sandige Stelle am Ufer, an der sein Vater und er und sicherlich auch andere Steinklopfer schon oftmals den Nachen aufgesetzt hatten, sprang aus dem Nachen, zog ihn ein Stück weit auf das Ufer und band ihn an einem mächtigen Kalksteinbrocken fest. Dann hob er die Schiebkarre aus dem Kahn, legte die Spitzhacke hinein und schob die Karre dem Bruch entgegen; er benutzte den uralten Pfad vom Main bis hin zu der Stelle, die seit ewigen Zeiten ‚die Wolfsschlucht‘ genannt wurde, obwohl es dort schon lange keine Schlucht mehr gab, da zu viele Kalksteine in den die Steinkaute genannten, aus Landschneckenkalk und Abraum gebildeten Hügeln seit der Zeit gebrochen worden waren, in denen der Name entstanden sein mochte. Ob es hier jemals einen Wolf gegeben hatte konnte keiner der Altvorderen bestätigen; die Steilwand, an der jedermann Kalksteine brechen konnte, ob Flersheimer, Hochemer oder Rießelsemer, hatte aber eine große, von der Natur geschaffene Höhle hoch oben in der Wand, in die zwar niemals ein Wolf hätte hineingelangen können, die aber ob ihrer Tiefe und Dunkelheit den frühen Steinbrechern so unheimlich gewesen war, dass sie ihr den vom Eindringen abschreckenden Namen gegeben hatten.
Als Martin etwa fünfzig Schritt vor sich die Steilwand sah, blieb er plötzlich stehen und bewegte sich nicht hinter seiner Schiebkarre, denn ein mittelgroßer Hund kam auf ihn zugerannt, blieb vor ihm stehen und fletschte seine Zähne. Und schon rief eine Stimme: „Drodd, hierher“, und ein junger Mann kam auf Martin zu, eine Leine in der Hand, die er nun am Halsband des Hundes festmachte und dann sagte: „Er beißt nicht und bellt nicht, er ist ein guter Hund.“
Martin zog eine Grimasse. „Woher soll ich das wissen? Ich will nur ein paar Steine holen“, und schob die Karre an dem Jungen vorbei und verharrte wiederum, denn hoch oben auf dem Wirtschaftsweg, der von der Hochemer Straße in einer großen Schleife zur Wolfsschlucht führt, sah er eine geschlossene Kutsche stehen, die mit einer Tür und einem Fenster aussah wie ein Wagen vom Fahrenden Volk, unweit des Wagens graste ein Pferd.
Unten vor der Wand saßen um ein offenes Feuer ein älterer Mann und ein junges Mädchen auf Steinen in der Sonne, beide wie der junge Mann bürgerlich gekleidet und ohne Kopfbedeckung, und sahen neugierig zu Martin herüber, der die Karre an die Sitzenden heran schob und sagte: „Gude. Ich habe im Main einige Fische gefangen und will nun ein paar Steine holen, die mein Vater und ich letzte Woche hier gebrochen haben, dort hinten liegen sie“, und wollte die Karre weiterschieben.
Der Bursche hatte den Hund von der Leine gelöst, der Martin nicht aus den Augen gelassen hatte, sich aber nach einem Zuruf des älteren Mannes in den Schatten eines großen Kalksteins legte, den Kopf auf den Pfoten.
„Willst du dich nicht zu uns setzen? Es gibt gleich etwas zu essen. Auch gibt es einen Becher Wein dazu“, sagte der fremde Junge und deutete auf das Feuer, über dem auf einem eisernen Spieß zwischen zwei in den Boden gesteckten Astgabeln drei Vögel brieten. Nun stand das Mädchen auf, ging zum Feuer und drehte langsam den Spieß, um die Vögel von allen Seiten gar zu braten.
„Gerne“, antwortete Martin, schob seine Karre etwas zur Seite und setzte sich auf einen Stein dem Älteren gegenüber. „Das ist unser Vater“, sagte der Bursche, „und das Mädchen mit den schwarzen Haaren und dem bunten Tuch um den Hals ist meine Schwester Viola und ich bin der Hubertus.“
„Ich bin Martin. Ich hatte nicht erwartet, hier Leute anzutreffen.“
„Wir sind nur bis übermorgen hier“, sagte Hubertus, „dann reisen wir wieder ab. Martin?“
„Ja Martin, ein Fischergeselle aus Flersheim. Ich bin mit unserem Nachen unten am Main und den will ich nachher mit den Steinen beladen und sie nach Hause bringen. Kennst du Flersheim?“
„Es ist das nächste Dorf, oder? Nein, ich kenne es nicht.“
Der Vater der beiden jungen Leute stand auf, zog sein Messer und stach in das Fleisch eines der Brathühner. „Bald sind sie gut“, murmelte er und setzte sich wieder.
„Wie alt bist du, Hubertus?“, fragte Martin.
„Ich bin Achtzehn, und du?“
„Ich bin Neunzehn.“ Martin sah zu dem Mädchen hinüber. „Und wie alt bist du, Viola?“
„Ich bin zwei Jahre jünger als Hubertus.“
„Ah ja.“
Es entstand eine Pause, bis der Vater sagte: „Hubertus, zieh‘ die Hühner vom Spieß“, und Hubertus nahm einen Fausthandschuh vom Boden auf, zog ihn über seine linke Hand, hob damit den Spieß aus den Astgabeln und streifte mit seinem Messer die gebratenen Hühnchen in eine große Schüssel, die seine Schwester für ihn bereit hielte und dann auf den Boden neben dem Feuer stellte. In der Schüssel zerteilte Viola die Hühnchen mit einem scharfen Messer, pflückte mit schnellen Fingern die heißen größeren Knochen heraus und schob die Fleischstücke auseinander, so dass man die Stücke aufspießen und in den Mund stecken konnte. Dann nahm sie aus einer kleinen Kiste, die weit neben dem Feuer im Schatten eines dicht belaubten Hollerbuschs stand, einen mit einem starken Stopfen verschlossenen Krug und vier Becher; den Krug gab sie Hubertus in die Hand, der den Stopfen aus dem Krug zog und die vier Becher mit weißem Wein füllte. „Trinken wir erst einmal“, sagte Hubertus.“
„Dankeschön – und zum Wohl!“, antwortete Martin, hielt seinen Becher den Gastgebern entgegen und als der Ältere seinen Becher an den Mund führte, tranken auch die jungen Leute von dem Wein.
„Nun wollen wir essen“, sagte Hubertus.
„Heiß“, sagte Viola, „verbrennt euch nicht den Mund und gebt acht auf die Knöchelchen.“ Sie sah ihren Vater an, der nickte ihr zu, stellte seinen Becher auf die mit Kalksteinsplittern übersäte Erde und spießte ein Stück Fleisch mit seinem Messer auf, jetzt konnten auch seine Kinder und der Gast ihre Becher abstellen, mit ihren Messern Fleisch aufnehmen und hineinbeißen.
„Schmeckt es dir?“, fragte Hubertus, „wo ihr doch sonst nur eure Fische esst?“
Martin lachte mit vollem Mund. „Nein, wir essen nicht nur unsere Fische, wir essen auch Fleisch, vor allem Schweinefleisch. Aber ihr, esst ihr auch Fische?“
„Aber ja“, entgegnete Hubertus.
„Dann werde ich euch morgen drei große Fische bringen. Soll ich sie vorher ausnehmen?“
Hubertus sah Viola an, die nickte ihm zu. „Ja, wenn du sie ausnimmst, können wir sie sofort auf den Spieß stecken.“
„Das Fleisch schmeckt mir“, sagte Martin und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, „was sind das für Vögel?“
„Rebhühner. Vater hat sie mit seiner Handschleuder in den Hochemer Weingärten geschossen, er ist ein Meisterschütze, gell Vater?“
Der Vater nickte.
Nach einer Weile sagte Martin: „Das Rebhuhn hat sehr gut geschmeckt, danke, auch für den Wein. Aber jetzt muss ich meine Steine aufladen“, und nahm seinen Becher auf, trank ihn leer und gab ihn Hubertus in die Hand, der ihn an Viola weitergab.
„Ich helfe dir“, sagte Hubertus und er und Martin standen auf und Martin schob die Karre an die gebrochenen Steine heran und die beiden luden sieben davon auf. Doch bevor sich Martin auf den Weg zum Nachen machen konnte, sagte Hubertus: „Komm, Martin, wir setzen uns noch mal und trinken noch einen Becher Wein, dann hast du nachher genug Kraft, den Karren zum Nachen zu schieben.““
Sie setzten sich, Viola gab Martin und Hubertus ihre Becher zurück und schenkte ihnen Wein ein. „Du nicht, Viola?“, fragte Hubertus.
Viola schüttelte den Kopf.
Martin sah das Mädchen an. „Viola heißt du? Das ist ein sehr seltener Name, den kennt man bei uns nicht. Wann hast du Namenstag?“
„Am dritten Mai“, antwortete Viola.
Als die beiden Burschen vom Wein getrunken hatten, sagte Hubertus: „Martin, willst du nicht wissen, warum wir hier sind und woher wir kommen?“
Martin schluckte und druckste herum: „Ihr seid doch … oder seid ihr nicht … Landfahrer?“
Hubertus grinste. „Zigeuner, meinst du?“
Martin sah sich in der Runde um. Der Vater der beiden jungen Menschen lächelte nicht, Hubertus grinste noch immer und das Mädchen lachte und vertrieb mit ihrem glockenhellen Lachen Martins Besorgnis, das Wort ‚Landfahrer‘ in den Mund genommen zu haben.
„Landfahrer waren wir mal“, sagte Hubertus, „vor langer Zeit, zu Zeiten meines Ur-Ur-Großvaters, ja, und unsere Vorfahren haben den Zigeunerwagen behalten, er ist ein Stück unserer Familiengeschichte, aber jetzt sind wir seit drei oder mehr Generationen sesshaft und katholisch. Wir haben ein Haus in Rudelsheim (So hieß ein Dorf im heutigen Rheinhessen, das aufgegeben werden musste und heute Ludwigshöhe heißt) das liegt ein Stück weit hinter der Stadt Oppenheim am Rhein, dort haben wir einige Weingärten und mitten in den Weingärten haben wir einen Weinhof. Sollte dein Weg dich mal nach Rudelsheim führen: Unser Wohnhaus ist das erste Haus auf der Straße von Oppenheim her und unser Name ist Fahrmann.
Viola und ich haben noch zwei jüngere Geschwister, und wir alle fünf arbeiten das ganze Jahr über in unseren Weingärten, Vater macht im Herbst und Winter den Wein und verkauft ihn nach Mainz, wir können gut davon leben. Ich bin Winzergeselle und Viola lernt bei einem Kaufmann, damit sie später die Bücher unserer Weinhandlung führen kann.“
„Und eure Mutter, Hubertus?“
„Unsere Mutter ist vor drei Monaten gestorben und das ist auch der Grund, warum wir heute hier sind. Vater und Mutter waren vor neunzehn Jahren in Hochem, mit dem Wagen dort oben, und am Abend sind sie hierher gefahren, nachdem ein befreundeter Winzer ihnen von dieser Schlucht erzählt hatte. Vater und Mutter …, darf ich, Vater?“
Der Vater nickte Hubertus zu und der fuhr fort: „… na ja, Vater hat das so erzählt: Die beiden waren bereits seit zwei Monaten kirchlich verheiratet, aber hier hielten die beiden unter dem Sternenzelt noch einmal Hochzeit und neun Monate später kam ich zur Welt. Und deshalb wollte Vater noch einmal hier hin, im Gedenken an Mutter.“
Der Vater hatte zugehört und Martin meinte, eine Rötung im Gesicht des älteren Mannes zu erkennen.
„Nun aber, Martin, erzähle uns ein wenig von dir und deiner Familie“, sagte Hubertus, „wir möchten gerne etwas von euch Fischern wissen.“
Und Martin begann von seinen Vorfahren zu erzählen, die alle als Fischer auf dem Main arbeiteten, von seinem Vater, dem Fischermeister, und von sich selbst, von seiner Wanderung den Main hinauf, von seiner Zeit als Fischerlehrling in einem kleinen Dorf ein Stück weit vor Würzburg und von seiner Gesellenprüfung, und dass er in zwei Jahren nach seiner Meisterprüfung wie die anderen Fischermeister auch die Fischrechte auf dem Main erhalten würde und dann heiraten und eine Familie ernähren könnte; er erzählte von den Fischen im Main und welche Namen sie hatten und während er erzählte, sah Viola ihn andauernd an und auch Martin sah nur noch Violas Augen und Mund und dann schien es, als erzähle er nur ihr und nur sie höre ihm zu.
Hubertus saß seiner Schwester gegenüber und ein Erstaunen und ein Lächeln war in seinem Gesicht, da er Violas und Martins unverwandte Blicke zueinander sah, aber auch der Vater sah seine Tochter unablässig an, sah ihre leuchtenden Augen und ihren lächelnden Mund und sein Gesicht begann sich zu versteinern und nach einem flüchtigen Blick zu ihm hin glaubte Martin, eine Angst in seinen Augen zu erkennen.
Als Martin genug erzählt hatte neigte er kurz seinen Kopf zu Viola hin, die kurz die Augen schloss und ihm dann zunickte. Und schon sprang Martin auf. „Oh jeh, es ist spät geworden, mehr als eine Stunde bin ich schon hier, meine Eltern werden sich Sorgen machen. Ich muss los, dann Grüß Gott bis morgen, ich bringe Fische mit“, und er winkte den dreien zu, ergriff die Holme seiner Karre und gerade als er sie anschieben wollte kam Viola an seine Seite.
„Martin“, sagte sie, „bring‘ bitte morgen die Fische vor Mittag her, dann können wir sie noch braten und essen, denn danach wollen wir unsere Sachen packen, um übermorgen früh am Morgen abreisen zu können.“
„Ich bin beizeiten da, Viola. Aber bis dahin …“, Martin griff in eine Tasche seines Fischerhemdes und zog einen glatten steinernen und farbig gebänderten kugeligen Stein heraus. „Diesen Stein habe ich vor Jahren im Main gefunden, mein Vater sagt, er kommt von weit her und das Wasser und der Sand haben ihn geformt. Ich trage die Kugel immer bei mir, aber jetzt … bitte, Viola, nimm die Kugel als Andenken an Martin, den Fischergesellen.“
Viola rollte den Stein zwischen ihren beiden Händen. „Ein schöner Stein. Ich werde ihn hüten und immer wenn ich ihn in die Hand nehme, werde ich an dich denken.“
Martin deutete auf ihr Halstuch. „Ein schönes Tuch. Ich werde es immer vor mir sehen.“
Viola fasste das Tuch an. „Es ist ein kostbares Tuch und wird seit vielen Generationen in unserer Familie von der Mutter auf die älteste Tochter vererbt, es ist aus Seide und die Seide wird von Raupen gemacht, ganz weit weg in einem Land, das China heißt.“
„Viola!“, sagte Martin und Viola sagte „Martin! Bis morgen!“, und nach einem Blick in ihre Augen trennten sich die zwei jungen Menschen.
Doch als Martin am nächsten Tag wieder mit dem Nachen hinter die Seilfurt kam und mit einem Eimer und drei ausgenommener Karpfen darin zur Wolfsschlucht eilte sah er schon von weitem, dass Pferd und Wagen nicht mehr an ihrem Platz waren. Er rannte zur Steilwand und zur kalten Asche eines Feuers, das an diesem Morgen nicht mehr gebrannt hatte, der Vater und seine Kinder Hubertus und Viola waren demnach schon am Vortag abgereist.
„Nein“, schrie Martin. „Nein!“ Martin stellte den Eimer mit den Fischen auf den Boden und ging vor der Steilwand hin und her und sah sich nach irgendetwas um, das Viola für ihn als Andenken hinterlassen haben mochte, aber er konnte nirgends etwas entdecken. Als er sich aber bückte, um den Eimer mit den Fischen hochzunehmen, sah er tief im Hollerbusch etwas Rotes und als er näher kam erkannte er das um einen Ast geschlungene und verknotete Halstuch Violas.
Tränen des Glücks schossen ihm in die Augen. „Viola“, schrie er und „Viola!“, murmelte er „Sie hat einen Stein von mir als Andenken an mich und ich habe ein Tuch von ihr als Andenken an sie. Wenn ich Fischermeister bin werde ich nach Rudelsheim gehen, Viola das Tuch bringen und sie nach Flersheim führen.“
Als Martin an diesem Morgen den besegelten Nachen mit gutem Wind nach Flersheim zurückführte dachte er nach: „Was mache ich nur mit dem Tuch? Wo verstecke ich es?“
Denn zu jener Zeit gab es in den Familien keine Geheimnisse voreinander und alle Schränke und Truhen waren allen Familienangehörigen zugänglich. Wenn also, so dachte Martin bei sich, meine Schwester Mathilde das Tuch findet, wird sie es sich ohne Zögern um den Hals winden. Und wenn ich es ihr als Andenken an ein fremdes Mädchen zu entreißen versuche, wird es nicht lange dauern, bis das Tuch nicht mehr aufzufinden sein wird und niemand wird sich erinnern wollen, wo es geblieben ist. Denn wer, weder Vater noch Mutter noch Mathilde, kann schon begreifen, dass ich nur nach Blicken in eines fremden Mädchens Augen kein anderes Mädchen mehr ansehen will und nur darauf warte, dass zwei Jahre vergehen und ich als Fischermeister eine Familie ernähren kann?
„Wo verstecke ich nur das Tuch?“, und dann fiel es ihm ein: Im Hausgang stand in einer Mauernische eine Madonna aus Ton, von der er wusste, dass sie innen hohl war und zwar in der Art, dass ihr Innenraum größer war als die den Hohlraum nach unten abschließende Öffnung. „Dort hinein werde ich das Tuch stecken, es wird den Hohlraum ausfüllen und es wird weder durch sein Gewicht noch durch ein Rascheln beim Bewegen der Figur auffallen. Nur meiner jüngeren Schwester Elisabeth werde ich davon erzählen, sie wird mich nie verraten und wird auch nie das Tuch aus der Figur herausziehen.“ Und am Abend desselben Tages, als er die Haustür zuschloss, versteckte er das seidene Tuch in der Marienfigur, doch erst nachdem er es an seine Lippen geführt hatte.
Zwei Jahre lang dachte Martin jeden Tag an Viola und zwei Jahre noch erlernte er das Fischerhandwerk und zwar so gut, dass er die Meisterprüfung vor drei Fischermeistern mit Erfolg bestand. Und als Flersheimer Fischermeister, der das Recht zum Fischen auf dem Main erworben hatte und nun eine Familie gründen und ernähren konnte, machte sich Martin an einem Samstag im Hochsommer hochgemut und mit dem Seidentuch in der Wandertasche auf den Weg zu Viola und zur Familie Fahrmann in Rudelsheim; er überquerte den Main mit der Flersheimer Fahr und wanderte singend und pfeifend und seine Arme fröhlich schwenkend durch das Ried, an Trebur vorbei und zur Fähre am Kornsand, die ihn nach Oppenheim übersetzte, und wanderte weiter nach Rudelsheim.
Er fand das Haus, wie Hubertus ihm beschrieben hatte und klopfte an die Tür. Eine junge Frau, ein Kind auf dem Arm, öffnete und fragte: „Wer seid Ihr?“
„Ich bin Martin aus Flersheim, kann ich bitte mit Hubertus und Viola sprechen?“
„Martin aus Flersheim! Ja, Viola und Hubertus haben mir von dir erzählt. Komm herein in die Küche, Hubertus ist im Garten hinter dem Haus“, und die Frau öffnete eine Hintertür und rief: „Hubertus, Martin ist gekommen.“
Dann kam Hubertus und wischte sich die Hände an seinen Hosen ab. „Martin, dass du gekommen bist! Das ist meine Frau Margarete und mein Sohn Friedrich, komm‘, ich nehm‘ dir deine Tasche ab“, und sie setzten sich an den Küchentisch.
Margarete fragte: „Willst du ein Glas Wein trinken, Martin?“
„Gerne. Aber ich bin gekommen, um Viola zu sehen und sie zu mir zu holen – oder ist sie schon verheiratet?“
Margarete gab Hubertus das Kind in den Arm und ging aus der Küche, den Wein und die Trinkbecher zu holen, und Martin glaubte in ihren Augen eine Träne erblickt zu haben und ein eisiger Schreck überfiel ihn. „Hubertus, ist … ist etwas geschehen?“
Auch in Hubertus‘ Augen glänzte eine Träne. „Ja, Martin, Viola ist … sie ist im letzten Herbst gestorben. Sie wollte immer zu dir nach Flersheim, aber sie hatte Mutter auf dem Sterbebett versprochen, sich um Vater zu kümmern so lange er lebt und das hat sie auch. Doch Vater wurde im letzten Sommer krank, sehr krank und seine Krankheit übertrug sich auf Viola und so sind beide am selben Tag im November gestorben.“
In Martins Augen schossen Tränen und sein Weinen schüttelte ihn, sodass Hubertus aufstand und seine Arme um ihn legte, ihn zu trösten. „Martin“, sagte er, „die ganzen zwei Jahre über hat Viola nur an dich gedacht. Sie hat dich sehr geliebt.“
Martin wischte sich die Augen. „Auch ich habe jeden Tag an Viola gedacht, ich habe sie geliebt vom ersten Augenblick an“, und er griff in die Tasche seiner Jacke und nahm das Seidentuch heraus. „Hubertus, ich weiß es noch wie heute, als ich in den Steinbruch kam am nächsten Morgen und sehen musste, ihr seid nicht mehr da und ich ihren Namen schrie vor Schmerz.“
Hubertus nickte. „Ja, unser Vater hatte wie ich eure Blicke gesehen und hatte Angst, dass Viola und du sehr bald … da hat er gesagt, er müsse sofort nach Hause und zu seinem Bader. Und so sind wir noch am gleichen Abend aufgebrochen. Aber ich habe noch gesehen, dass Viola ihr Halstuch an einen Busch gebunden hat, um dir ein Zeichen zu geben.“
Martin nahm das Seidentuch aus seiner Tasche, glättete es mit seinen Händen und hielt es hoch. „Das Zeichen ihrer Liebe als Andenken. Ich habe es gehütet.“
Margarete hatte den Wein gebracht und Martin und Hubertus tranken davon. Dann gingen Hubertus und Martin zum Friedhof des Dorfes nahe der Dorfkapelle und zu zwei Gräbern nebeneinander. „Martin“, sagte Hubertus, „Viola wollte, dass ich ihr deinen Stein mit ins Grab gebe und sagte auf dem Sterbebett, wenn ich Martin in der Ewigkeit wiedersehe soll er sehen, dass ich sein Andenken gut verwahrt habe.“
Martin setzte sich auf eine Bank in der Nähe der Gräber. „Geh‘ schon mal vor, Hubertus, ich komme nach.“
„Ja, Martin, du kannst bei uns essen und zur Nacht bleiben.“
Martin sah weiße Wolken über den Friedhof ziehen, Schwalben und Mauersegler jagten über den Gräbern und dort lag Viola in der geweihten Erde, seine große Liebe. Er schloss die Augen und sah ihr Gesicht vor sich, ihre leuchtenden Augen und ihren lächelnden Mund, ihr Gesicht eingerahmt von schwarzen Haaren und um den Hals das rote Tuch geknotet und er hörte sie zum Abschied in der Wolfsschlucht sagen „Martin! Bis morgen!“ und Martin legte seinen Kopf zwischen beide Hände und begann zu weinen, er schüttelte sich vor Leid und Trauer und fasste einen Entschluss: „Niemals werde ich eine andere Frau lieben als Viola. Und dass damit der Name meiner Familie erlöschen wird und die Fischrechte der Windbergers verloren gehen, werden Vater und Mutter mir verzeihen müssen.“
Am nächsten Tag auf der Fähre von Oppenheim zum Kornsand sah Martin in das aufschäumende Wasser hinter der vom Rheinfluss angetriebenen Seilfähre, das Wasser schäumte und sprudelte und es schien ihm, als ob es spräche: „Komm, komm zu Viola!“, doch Martin glaubte den weißen Bart und die geisterhaft ihm zuwinkenden Hände des bösen Wassergeistes in den Strudeln zu erkennen. „Niemals werde ich mich selbst töten“, sprach Martin leise zu sich selbst, „denn als Selbstmörder werde ich nach meinem Tod nicht dorthin kommen, wo Viola auf mich wartet.“
Als Martin in Flersheim und zu Hause ankam, versteckte er Violas Tuch wieder in der Marienfigur. In den folgenden Monaten verzehrte er sich in Erinnerung an Viola, arbeitete viel und aß wenig und so lebte er nur noch zwei Jahre, dann brach ihm das Herz.
Martins Familie stand an seinem Sterbebett; Martin hatte die Augen geschlossen und nur die Finger seiner rechten Hand bewegten sich, so als ob sie nach etwas greifen wollten. Alle sahen es, doch nur Martins Mutter glaubte zu wissen was in Martin vorging; sie eilte in den Hausgang und kam mit der Muttergottesstatue zurück, griff mit zwei Fingern in das Loch am Boden der Figur und zog das Seidentuch heraus. „Seit wann wisst Ihr davon?“, wisperte Elisabeth. „Seit einem Jahr“, flüsterte die Mutter und gab das Tuch in Martins Hand – und während sich seine Finger langsam um die Seide schlossen, öffnete er noch einmal seine Augen, lächelte und verschied.
„Er hat Viola gesehen, seine große Liebe“, flüsterte Elisabeth, „jetzt ist er bei ihr“, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Bevor drei Tage später der Totengräber den Sarg im Beisein der Familie verschloss, schlang die Mutter das seidene Halstuch Violas um Martins gefalteten Hände.
Und so gingen zwei junge Menschen in die Ewigkeit, denen in einer einzigen Stunde eine große Liebe zueinander ins Herz gelegt wurde, die stärker war als der Tod, und dies, da sich die beiden Liebenden in ihrem kurzen Leben nur an den Andenken ihrer Liebe, einer steinernen Kugel und einem seidenen Tuch, erfreuen konnten.
Bild: Wahre Liebe, flickr, Creative Commons BY-ND 2.0