Der Fischer Fried und der Edderschemer Soldat

Es begab sich vor langer, langer Zeit, da wurde einem dreizehn Jahre alten Flersheimer Mädchen von einem fremden Mann Gewalt angetan.

Das Mädchen mit Namen Margareta, Gretchen genannt und die einzige Tochter des Fischers Fried, hatte im Monat Mai am Main in der Nähe des Ardelgrabens die Gänse ihrer Großmutter gehütet, als ein Nachen am Ufer anlegte, ein großgewachsener Mann in Fischerkleidung und mit einer roten, breiten Narbe auf der Stirn ausstieg, den Kahn auf den schmalen Sandstrand zog und das Gretchen in den nahegelegenen Schilfwald zerrte. Dort stopfte er ihr ein Büschel Gras in den Mund, bog ein Bündel Schilfstängel nieder und verging sich an ihr; dann band er mit den Stängeln ihre Hände und Füße zusammen und ließ sie auf dem Schilfbündel liegend zurück, er selbst schlich sich nach allen Seiten Ausschau haltend aus dem Schilf. Gretchen hörte noch die Geräusche eines flussaufwärts gestakten Nachens, dann schwanden ihr die Sinne.

Als sie wieder zu sich kam, sah sie in viele Gesichter. Denn als die Gänse von Gretchens Großmutter ohne ihre Hüterin zum Haus der Frieds, in dem auch die Großmutter wohnte, gewatschelt kamen, vermisste die Großmutter ihre Enkelin und sogleich schrie sie nach Gretchens Vater und Gretchens drei Brüdern, die sofort zum Main rannten und „Gretchen! Gretchen!“ riefen, ohne eine Antwort zu erhalten. Doch als der Vater das niedergetretene Schilf sah, winkte er nach seinen Söhnen und gemeinsam drangen sie in den Schilfwald ein, fanden das gefesselte und geknebelte Gretchen und brachten sie nach Hause.

Zwei Wochen vergingen, in denen Gretchen im Fieber lag, bevor sie von ihrem Bett aus ihrer Mutter und der Großmutter von der Untat eines großen Mannes mit einer roten und breiten Narbe auf der Stirn berichten konnte. Von dem was an ihr geschehen war, davon hatten sie und ihre Freundinnen schon kichernd und sich ständig nach Erwachsenen umsehend geflüstert, aber dass dies mit einer solchen Gewalt geschehen konnte, davon hatten die jungen Mädchen nichts gewusst.

Als der Pfarrer an Gretchens Bett kam und ihr die Beichte abnehmen wollte, so als ob sie für das Geschehen verantwortlich gewesen und darüber Reue empfinden sollte, schrie Gretchen so laut und durchdringend auf, dass ihr Vater die Treppe zur Mädchenstube hinauf stürmte, dem Pfarrer in den Hintern trat und ihn die Treppe hinunter warf.

Nun war es aber an der Zeit, dass Fried dem Amtsverweser in Hochem Bericht erstattete; er erzählte ihm was geschehen war, dass aber das Gretchen sich nicht an den Mann erinnern könne, außer dass er sehr groß gewesen sei und Fischerkleidung getragen habe.

Dass er eine rote und breite Narbe auf seiner Stirn trug, dies berichtete der Vater dem Amtsverweser nicht aus Furcht, dass der eine Gerichtszeichnung anfertigen und damit dem Verbrecher ein Warnung zukommen lassen könnte. Nein, das behielte Fried für sich da er annahm, dass der Mann mit dem Nachen aus Raunem oder Edderschem stamme und weil er gemeinsam mit seinen Söhnen nach ihm suchen und ihn bestrafen wollte.

Da der Amtsverweser mit Gretchens allgemeinen Angaben nicht viel anfangen konnte, nahm er den Vorfall lediglich zu den Akten, die er einige Wochen später in die Ablage verschob da sich bis dahin auch herausgestellt hatte, dass das Gretchen durch die Untat nicht in Hoffnung gekommen war. Doch war sie schwermütig geworden, saß oft auf ihrem Bett, weinte und wollte nie mehr an den Main, die Gänse zu hüten.

Gretchens Vater ließ das Verbrechen nicht ruhen, und wann immer Fried auf dem Mainfluss mit seinem Nachen oder mit seinem Schelch zum Fischen unterwegs war und bis zum Schwarzbach hinter Edderschem hinauf fuhr, sah er jedem Fremden, auf dem Wasser oder auf dem Land, ins Gesicht, aber keiner von denen hatte eine rote, breite Narbe auf seiner Stirn.

Nun begab es sich im ausgehenden Sommer des gleichen Jahres, dass die Edderschemer Fischersleut wie in jedem Jahr ein Fi-scherstechen ausrichteten, ein Ereignis, das Familien aus Nah und Fern an das Edderschemer Mainufer lockte, sich das Spektakel auf dem Wasser anzusehen. Auch Fried und seine Söhne machten sich in einem Schelch von Flersheim aus auf den Weg nach Edderschem, banden ihren Kahn an einem Weidenbaum fest und verteilten sich unter die Menge der Gaffer, um vielleicht doch den Mann mit der Narbe dort aufzufinden. Und tatsächlich sah Peter, der älteste der Brüder, einen großgewachsenen Soldaten in Uniform und mit einem Säbel an der Seite, der eine Narbe wie von Gretchen berichtet auf seiner Stirn trug.

Peter rief seinen Vater und seine beiden Brüder zusammen, berichtete ihnen von seinem Verdacht, und nach und nach näherte sich einer nach dem anderen von ihnen dem Soldaten, und bald waren sie sich einig, dass der Lange der Verbrecher war, der Gretchen missbraucht hatte. Der Soldat hatte stets seine Familie neben sich, eine Frau, drei Kinder und zwei ältere Leute, die seine Eltern sein mochten, und auch zwei andere Soldaten, wohl Waffenbrüder von ihm, waren stets an seiner Seite.

Hier können wir nichts tun“, flüsterte der Vater seinen Söhnen zu, „aber vielleicht können wir ja erfahren, wo der Kerl wohnt und dann holen wir ihn in der Nacht aus seinem Bett.“

Der jüngste der Brüder, Karlchen genannt und elf Jahre alt, gelangte ohne aufzufallen nahe an den Soldaten heran und konnte hören, dass der den Namen Philipp trug und der Sohn eines Edderschemer Fischers war. So war auch zu erklären, wie der Soldat zu einem Nachen und damit nach Flersheim gelangen konnte. Wo der Kerl aber wohnte, konnte Karlchen nicht in Erfahrung bringen, und als er nach einer Weile den Seinen davon berichtete musste er auch hinzufügen, dass der Philipp mit seinem Gefolge sich zu einer Edderschemer Schänke begeben hatte und also für heute nicht zu ergreifen war.

Nun aber wussten Gretchens Vater und Brüder, wessen sie habhaft werden wollten, und so suchten sie nach einer Gelegenheit, den Soldaten in ihre Gewalt zu bringen.

Der Vater hatte lange nachgedacht und eines Abends, als die Familie beim Abendbrot und bei Kerzenschein am Tisch saß, sagte er: „Verbrecher kommen oft an den Ort ihrer Untat zurück. Ich glaube, wir müssen nur lange genug Wache halten, dann wird er sich schon wieder einmal am Ardelgraben einstellen. In diesem Jahr, es ist ja bereits Oktober, wird er gewiss nicht mehr nach Flersheim kommen. Also wird jeder von euch Burschen an jedem Tag ab dem April des nächsten Jahres am Ardelgraben sein und nach dem Edderschemer Soldaten Ausschau halten, und zwar von der oberen Eisbrech aus im Schatten der Erlenbäume, und wenn er kommt, dann fassen wir ihn und schleppen ihn in den Schilfwald.“

Um Gotteswillen“, schluchzte Frieds Hausfrau, Gretchens Mutter. „Mann, willst du den Kerl erschlagen?“

Nein“, entgegnete Fried, „wir werden ihn zur Lache führen und ihn zwingen, sie zu durchqueren. Es ist ein Gottesurteil.“

Nun muss man wissen, dass es inmitten des Schilfwaldes eine Lache gab, eine große Lache, mit Moorpflanzen bedeckt und daher nicht geeignet, Fische darin zu hältern im Gegensatz zu den Lachen der Edderschemer Fischer gegen Weilbach hin, die auf offener Fläche sich ausdehnten und einer Menge Fische einen guten Aufenthalt boten.

Und dann?“, fragte sein Ältester.

Gelingt es ihm, wollen wir ihn ziehen lassen und bemühen uns darum, ihn vor das Mainzer Gericht zu bringen.“

Und wenn nicht?“, fragte sein Ältester nach.

Dann wird er ertrinken.“

Der Winter ging vorüber und als der Frühling kam, der Storch auf seinem Horst stand und mit dem Schnabel klapperte, als die Amseln sangen und die Schwalben zu ihren Nestern in den Kuhställen der Bauern zurückgekehrt waren hielten die Söhne des Fischers an jedem Tag und sich abwechselnd von der Eisbrech aus Wache; sie hatten dort eine schmale Bank gezimmert, auf der es sich aushalten ließ.

Und tatsächlich kam an einem Morgen in der Woche vor Ostern, als gerade das Karlchen Wache hielt, ein Nachen den Main herunter, ein Mann in Fischerkleidung ließ ihn bis zur Eisbrech treiben, dann drehte er den Kahn und stakte ihn flussaufwärts davon. Und gerade als er sich und den Nachen umdrehte konnte Karlchen die von Gretchen beschriebene Narbe auf der Stirn des Mannes leuchten sehen.

Der Bub lief nach Hause, rief nach seinem Vater und den Brüdern und alle sprangen in Frieds Schelch, der Fischer zog ein Segel auf und vom tüchtigen Wind von Westen her getrieben nahm ihr Kahn Fahrt auf und noch kurz vor Raunem hatten sie den Nachen des Soldaten eingeholt, doch sie segelten eine kleine Strecke weiter und Fried fragte seine Söhne: „Ich meine, er ist es, was meint ihr?“und als alle drei „Ja, die Narbe verrät ihn!“ sagten, zog Fried das Segel ein, drehte den Schelch und ließ ihn auf den Nachen des stakenden und neugierig blickenden Soldaten zutreiben, das Ankerseil in der Hand.

Auf der Höhe des fremden Kahns angekommen warf Fried mit nur einem Schwung seines rechten Armes seinen Anker in den Nachen hinein, zog sich mit beiden Händen am Seil an den Nachen heran und sowie sich Bord und Bord berührten sprang er in den Nachen, verpasste dem erstaunt blickenden Soldaten einen gewaltigen Kinnhaken und noch bevor der Soldat zu Boden fiel, waren auch die Söhne in den Nachen gesprungen und hielten den Bösewicht fest. Fried warf den Anker in einen Steinhaufen am Mainufer, dann stießen er und seine Söhne den Soldaten ins flache Wasser, sprangen hinterher und trieben den Gefangenen in den Schilfwald bis zu der großen Lache.

Was wollt ihr von mir?“, schrie der Soldat.

Der Fischer sagte leise: „Du Schwein hast meiner Tochter Gewalt angetan und jetzt schicken wir dich in dieses Wasser. Wenn du es durchqueren kannst, werden wir dich anklagen, doch dann wird deine Strafe geringer sein als die heutige.“

Der Soldat machte einige Schritte in die von schwimmenden Moorpflanzen bedeckte Lache, drehte sich um und lachte. „Du dummer Fischer, leicht werde ich durch dieses Wasser kommen, und ob mein Kommandant eine Anklage gegen mich zulässt, das werden wir noch sehen, schließlich hat Deine Tochter mich verführt“, und er begann mit großen Schritten das hüfthohe Wasser zu durchqueren. Doch plötzlich wurden seine Schritte langsamer, er hatte den Moorboden erreicht und seine Stiefel begannen einzusinken, und je mehr er sich befreien wollte, desto tiefer sank er ein, bis nur noch seine Brust, sein Hals und sein Kopf aus dem Wasser ragten. Da drehte er den Kopf, Todesangst in den Augen und mit vom Wind in den rauschenden Schilfhalmen verwehten Schreien wie ein vom Schlachter gestochenes Schwein.

Der Vater und seine Söhne hatten sich auf trockenen Boden gesetzt und sahen dem Vergewaltiger zu. Noch nicht einmal eine Stunde stand der aufrecht und mit aufgerissenem Mund im Wasser, bevor er niedersank und ertrank.

Vater, warum ist der Mann gestorben?“, fragte Peter, der älteste der Brüder.

Der Vater stand auf und sagte: „Gehen wir.“

Da standen auch seine Söhne auf und gemeinsam gingen sie zum Main, stießen den Nachen des Soldaten weit in den Schilfwald hinein, stiegen in den Schelch und ließen sich den Main hi-nunter nach Flersheim treiben.

Noch einmal fragte Peter: „Vater, warum ist der Mann gestorben?“

Fried antwortete: „Das Wasser mitten in der Lache ist von Moorpflanzen bedeckt und kann daher von der Sonne nicht erwärmt werden, es ist so kalt, dass dem Mann zuerst die Beine und nach und nach sein ganzer Körper absterben, er erfriert mitten an einem sonnigen, warmen Tag. Morgen gehen wir nach Hochem zum Amtsverweser und berichten ihm, dass wir den Verbrecher schon gefangen hatten, aber noch bevor wir seine Füße binden konnten ist er in den Schilfwald gerannt und hat sich uns durch seine Flucht entzogen, wir glauben, er ist geradewegs in die Lache hinein gelaufen. War es nicht so, meine Söhne?“

Genau so war es, Vater“, antworteten seine Söhne wie aus einem Munde.

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